Sonntag, 27. Dezember 2015

I don't sound like who is Elvis


Vor gut anderthalb Jahren las ich in einem Rundschreiben des Testcard Magazins, daß Rezensionen nun nach Genres aufgeteilt werden. Ob es an der Vergangenheit oder meiner Jugend lag, einst fand ich Genres spannend, heute scheinen sie mir ein Zeichen des Verschwindens von Pop - oder besser jener Idee des Popverständnisses, als bewegter und bewegender, unkalkulierbarer Energie. Mein Kommentar erschien damals in Testcard 24.





I don’t sound like nobody


Die Geschichte ist Legende. Der junge Mann wollte seiner Mutter ein Geburtstagsständchen aufnehmen. Dafür gab es anno 1953 Playback-Karaokestudios in Telefonzellenformat, welche mit einer Art Matritzenschneidemaschine verbunden waren. Die Sekretärin des Memphis Recording Services, Marion Keisker fragte den jungen Mann: »What kind of singer are you?« He said, »I sing all kinds.« I said,»Who do you sound like?« He said,»I don't sound like nobody.«, so berichtet es Peter Guralnick in seinem Buch Last Train to Memphis. Hochamtliche Pop-Geschichtsschreibung somit. Wir wissen, dass Keisker ihrem Chef Sam Phillips von der guten Stimme des jungen Mannes berichtete und dass dieser ihn einlud, wie der junge Mann dann irgendwie nicht so recht wusste, wohin mit sich, mit der ihm an die Seite gestellten Band oder mit seiner irdischen Bestimmung und wie er schlussendlich ein altes Country Blues Stück anstimmte: »That’s all right» (Arthur [»Big Boy«] Crudup) / »Blue Moon of Kentucky« (Bill Monroe), Sun Records, Sun 209, 19. Juli 1954. Oder wissen wir  nicht?

Who is Elvis? 


Man könnte fast denken, ein Rave-Techno-Hit aus der Loveparade-Zeit setzte den Schlusspunkt unter eine Erinnerungskultur, die sich längst als lebendiger Mythos verstand: »Die Geburtsstunde unserer Popkultur.« – Klar, man kann darüber streiten, mit Ruth Brown oder mit Chuck D. argumentieren, aber wird »That’s all right« gespielt, entwickelt der außer Rand und Band singende Junge, gerade weil er nur vom Minimalismus einer elektroakustischen Gitarre und eines Standbasses begleitet wurde, jene Energie die immer noch Zeiten überbrückt. Also was nun? Geschichtsstunde? Mythos? Vergessenswerter Ballast? Exotische Wiederentdeckung?
Phenomanias / 
Interactives Techno–Hit suchte hingegen noch die Provokation. 1992 eine Geste von Wave-Veteranen auf der neuen Welle. 22 Jahre später erscheint der Gedanke nicht fremd, das Werk des bekanntesten Stars der Rock-Phase der Popmusik erstaunt wiederzuentdecken. Erst recht nicht aus der Perspektive junger Hörer. Die wissen auch, dass nicht Techno jenes Zeitalter beendete. Es scheint mehr, wagt man denn zu werten, dass es irgendwie aussickerte. Das wäre die Prämisse dieses Textes: Ob bei Elvis oder weit davor, in der Historie, die Karl Bruckmaier in The Story of Pop beschreibt: Geschichte hat einen Anfang und auch ein Ende. Darin unterscheidet sich Pop nicht von der Malerei der Renaissance, dem Roman oder der Oper. Pop hat seinen Beginn in der bislang größten Völkerwanderung und Völkerverschleppung und entsteht entlang und aufgrund weltanschaulicher, sozialer und technischer Veränderungen. Und gleich dem Roman oder der Oper bedeutet sein Ende kein völliges Verschwinden, sondern den Verlust an sozialer Relevanz, an neuen künstlerischen Ideen, insbesondere solchen, die nicht zusehends kleinere Kreise ziehen. Dafür wird Pop zum Thema der Wissenschaften, wird geordnet und mit mehr und mehr Begriffen versehen, sprich: akademisch  historisiert.
Eine technische Revolution begleitet dieses Verklingen: die Digitalisierung mit ihren potenziell endlosen Bibliotheken. Die unsichtbaren, oftmals nicht mal virtuell zum stöbernden Entdecken gemachten Gänge dieser Bibliothek benötigen Ordnungssystme. Der Klick auf den »Genre«-Reiter bei iTunes oder die professionell charmante Sortierung: »das könnte Ihnen auch gefallen«. Tatsächlich ist das mitunter sehr hilfreich. Wer Throbbing Gristle mag, entdeckt Krylon Hertz. Natürlich können solche Linien auch rückwärts, also historisch, funktionieren. Die bürokratische Revivalkultur der 1980er sorgte für entsprechende Übersichtswerke und eine Generation ordentlicher Buchhalter. Als die Revivals in den 1990ern und Nullern alles Vergangene auf einen »Classic«-Sockel hievten, verloren sich die zuvor noch rituell ausagierten sozialen Bedeutungen. Dieses Vergessen ermöglichte eine Freiheit, welche die Älteren im Entdecken zuvor ästhetisch oder ideologisch verschlossener Bereiche auskosteten: Progressive rocking all over the world!
Auf diesem Weg vernerdet Musik. Hier die alten Sammlerstücke, dort die Systematisierung des Neuen. Wo nicht mehr das Cover im Laden, Pop-Magazine oder Werbungen Aufmerksamkeit erzeugen, erscheint digitales Datengut als enorm flüchtig. Die Bandcamps und Soundclouds steuern dagegen, mit digitalen Covern, User-Charts und der Suchfunktion entlang von Genrebegriffen. Genres fungieren längst nicht mehr als Hort der Außenseiter, sondern markieren die neue Ordnung. Verschmähte Sparten, welche Buchhandlungen einst in quietschenden Drehregalen aus Plastik verstauten, stehen längst auf den selben Furnierbrettern wie Henry James. Aber wo ist der jetzt eigentlich eingeordnet? Was kein fixes Genre hat, verbleibt zusehends im verlorenen Irgendwas. Egalisierung ist sicher ein kultureller Gewinn, aber das präformierte Angebot langweilt am Ende nicht nur den Kunden Adorno. Wo ist Raum für Unerwartetes, für Bewegung? Die Verwaltergeneration kann da nicht helfen, die Classic-Generation ebensowenig. Wir müssen uns verstreichen lassen.

And here I sit so patiently waiting to find out what price
You have to pay to get out of going through all these things twice


Pop hat diese zweite Runde, in Dylans oder Marx’ oder Derridas Sinn schon längst durchlebt. Sie schuf verwaltete Geschichte in verwaltenden Genres, wo die Stile längst dritte und vierte Runden drehen: Hauntology. Die Schraube lässt sich nämlich gar nicht festziehen, doch im unerbittlichen Versuch, schaben wir ihr Gewinde ab. So ändert sich trotz digitalisierter Erinnerung etwas. Die Wiederholung erscheint dem Klassizist gewordenen Revolutionär als Farce. Mit jener Macht der Orthodoxie, welche Derrida in Marx & Sons den Marxisten und Marxistinnen diagnostiziert, versucht man Deutunghoheit zu bewahren. Zum Glück wurde Pop (noch) nicht gründlich genug verwissenschaftlicht. Zudem meiden Gespenster klare Konturen. Es spukt, wo das Vergangene im Prozess seiner Auflösung innehält und sich als seltsame Erscheinung in Erinnerung bringt. Vergessen beginnt als zersetzender Prozess. Zusammenhänge und komplexe, wertende Strukturen werden undechiffrierbar oder verschwinden. Es bleiben Mythen und neue Deutungen. Vielleicht ist der Wandel die übersehene Essenz der hauntologischen Wiederkehr. Nicht digital fixiert und dem Genre entflohen sabotiert der Wandel die paradoxe Idee eines lexikalischen Umgangs mit Geistern. Vielmehr wird die Erinnerung selbst zum Geist, als fernes, fragmentarisches, aber zugleich noch einprägsames Echo. Es erklingt im Hall der Stimmen von Boy Friend oder in den unbestimmten, impressionistischen Songs Lucrecia Dalts. Wenn Grimes die Musik Enyas als Vorbild anführt, verhallen alte Zusammenhänge. Interviewer, die mit hochgezogener Augenbraue »Ähnja?«fragten, kämpften aussichtslos um Definitionsmacht. Die jungen Leute müssen sich nicht einmal mehr darüber ärgern, ihr pragmatischer Umgang entspricht dem Vergessen: also nicht funktionalisiert wie ein digitales Sample, sondern als mythenverliebter Hauch. So spukt der Wandel in einer Musik zwischen gotischem Dream Pop und R&B, bei Evy Jane, Jody oder FKA twigs. Ihre Struktur des Mixens ist jene, an der auch Elvis partizipierte. Allein, die Räume wurden enger, die Schritte kürzer und die zu überbrückenden Grenzen harmloser. Mag auch sein, dass die erwähnten Töne noch viel zu fern des Vergessens sind. Doch unentwegt verwischen Geister mit breiter Besenschnauze, gleich dem Hund in Disneys »Alice in Wonderland«, die Fährte, der sie nachstellen. Es gibt kein Weg zurück.
Jenseits von Genres und gespeicherten Daten, determinieren Lebenszeit und Neuinterpretation die Gesetze des Vergessens. Hier mag Neues entstehen. Manchmal erinnern wirklich bedrohliche Wiedergänger die Popmusik an ihre einstige Kraft, weniger bei Oneohtrix Point Nevers verkochten Nudeln, eher bei Conchita Wurst. Sie wiederholt »I am what I am« als Notwendigkeit fern aller Farce. Eine dramatische Geste vor dunklem Horizont. Doch da reden wir über Politik und Ideologien, todbringende Genres, dem Spielerischen der Pop-Unmittelbarkeit abhold. Sie gehorchen dem unbewussten Geisterspiel Derridas viel mehr als Pop es je tat.

Oliver Tepel

Freitag, 21. August 2015

Tuxedomoon und die Psychopolitik - 1985 - 2015

Apollos Eselsohren 

Holy Wars, 30 Jahre später



















Endlose Bewegung. Wieder eine Welle, abermals erobert sich das Wasser neue Zentimeter des zuvor noch trockenen Sands, dann weicht es zurück - Stille - eine neue Welle. Aus dem Kopfhörer ein auf- und abschwellendes Brummen, ganz ohne Hast. Seine unbestimmte Beharrlichkeit illustriert das stete Anrollen der Flut. Bild und Ton am Strand von St. Malo - noch endlos breit und doch in absehbarer Zeit vom enormen Tidenhub überspült. Das Unvermeidliche beklagen Klarinette und Trompete in melancholischen Melodien. Ihr pessimistisches Schwelgen eröffnet dabei erst ein Album, an dessen Ende mir die Sonne eine kleine Wunde, auf den Brustkorb gebrannt haben wird. "The walz" von "Holy wars", dem (je nach Zählweise) dritten, vierten oder gar fünften Album der von San Francisco nach Europa emigrierten Band Tuxedomoon. Endlose Bewegtheit.

30 Jahre sind seitdem vergangen. Die Wunde war bald gut verheilt, doch ganz vergessen wurden weder die Sonnencreme-Achillesferse, noch die Musik. Seltsam, daß es kürzlich jene Momente der Gesellschaftskritik in ihren Texten waren, die mich an den Strand zurückholten. Erschienen sie mir einst doch vornehmlich als stereotype Slogans, etwas unangenehm, in der Art, wie sie in den Klang der Sozialkritik meiner jungen, engagierten Lehrer einstimmten. Wie ein Tintenklecks aus dem stylischen Kolben-Füllfederhalter der Schultage anno 1985 breiteten sie sich nun aus, über einige Seiten aus "Psychopolitik" von Byung-Chul Han, einem populären Vertreter jener Autoren schmaler Bändchen, welche die neoliberale Macht beschreiben und kritisieren. Hans' These, daß die Kontrollgesellschaft längst vom Einzelnen internalisiert wurde, ist erstmal wenig mehr, als die Wiederholung von Norbert Elias Theorie über den Prozess der Zivilisation. Auch dort klingt an, was Han dann als zentral sieht: das Subjekt übernimmt die Regeln gern, sie zu befolgen, verspricht Gewinn und Geltung; ja die Regeln sind gar derart, daß sie motivierend wirken. Die Gesellschaft: keine Klassen, erst recht keine revolutionären Klassenkämpfer, sondern nach persönlichem Erfolg strebende Einzelne. Gut, die Klassen sah Elias noch in zentraler Bedeutung. Bei ihm könnte man jedoch in seiner Beschreibung der, Klassengrenzen transzendierenden An- und Übernahme von Regeln, wie den Tischsitten oder Reinlichkeitsgeboten auch schon den Motor des scheinbaren Verschwindens der Klassen finden. Aber nicht nur das, sondern auch eine Begründung jener Bereitschaft, sich heute freiwillig einer iWatch Big Data Selbstüberwachung auszusetzen. Eben gar nicht per autoritärem Druck, sondern als ein, mit der Leichtigkeit des Verstärkungslernens vermitteltes Verhalten. Keine Geknechteten, sondern hoffnungsvolle, mitunter gar beglückte Egos, gute Kunden ... und so fort. In einem kleinen Exkurs bemüht sich Han mitten im Buch um eine Differenzierung der Begriffe "Stimmung", "Gefühl", "Emotion" und "Affekt". Vornehmlich, um darauf hinzuweisen, daß Emotionen und nicht Gefühle oder gar rationale Gründe vermarktet werden. Eine sinnvolle Differenzierung der Begriffe für eine ebenfalls nicht ganz so neue These. Und doch Grund genug, um auf einer Zugfahrt Randbemerkungen auf die Seiten zu kritzeln, über die Popkultur, die im Dienste der Vermarktung so vorteilhafte Figur des ewigen Jugendlichen (solche, wie ich und vielleicht auch Sie, verehrter Leser) und dessen emotional begründete Entscheidungen. Dazwischen steht auch in Blei: "Holy wars".
But holy wars have disappeared
There's nothing left to fight for here
There's only fear

Pick up where you just left up
Pick up the little pieces 
You left upon the altar devoted to yourself 
(Winston Tong/Tuxedomoon - Holy wars)
Ich hab das nie verstanden, warum sollte ich für einen Heiligen Krieg sein? Doch wen Tong da 1985 beschreibt, so wird mir heute klar, ist Hans' selbstmotivierter, narzisstischer Konsument, voller Angst, den Anforderungen nicht zu entsprechen. Hatte Tong brilliant die Zeichen der Zeit erkannt? Sprich, die von den Theoretikern der Chicagoer Schule, unter ihren ausführenden Kräften Pinochet, Reagan und Thatcher geformten Menschen?

Vielleicht ist es nur der Blick des Fremden auf Europa. Auf Touren und Reisen gesammelte Eindrücke, die sich zu Stimmungen und Mutmaßungen addieren: 
London to Paris
Amsterdam to Berlin
Walking the same streets
Thinking the same thoughts

Walk down Wardour to Saint-Germain
Is one big lonely city but I don't care
One big Eurocity but I don't care
(Steven Brown/Tuxedomoon - Some guys)
Die Stimmung? Romantik, vielleicht "Schwarze Romantik", jedenfalls fern eines neuen Arkadiens. Doch offensichtlich war es bereits vor 30 Jahren gut möglich, jene aktuell beklagte Uniformierung der Innenstädte zu bemerken. Damals ruinierten Ketten traditionsreiche Einzelhandelsgeschäfte. Mieten stiegen, die Armen wurden verdrängt, wenngleich weniger aus dem Brüssel, welches die Bandmitglieder auf Zeit ihr Zuhause nannten. Dafür bot die Stadt eine schmutzig graue Kulisse. Für den Symbolismus des 1981 noch in London eingespielten Albums "Desire", aber auch für die 1982 von Maurice Béjart angeforderte Ballettmusik "Divine", sowie die kühlen Nachtfahrten der "Suite en sous sol" Doppel 12". Als in der Folge die wenigen neuen Stücke, gleich jener, zusehends im Schwarz der Palette versinkenden Serie von Selbstportaits des Malers Leon Spillaert klangen, mochte man das nahende Ende der Band wähnen. Doch "Holy wars" schärft nach drei Jahren Albumpause die Kanten. Selbst wenn eines der Gründungsmitglieder, Blaine L. Reininger, ein sehr guter Songwriter, die Band verlassen hat, wirken die Stücke  erstaunlich vielfältig, wiewohl zu dem Preis, daß das Schwelgen von "The waltz" nicht durchgehalten werden kann. Was Reiningers Violinreigen verknüpfte, wird nun vom Weckruf einer Trompete getrennt. Allerdings bleibt eine Kohärenz, eine unsichtbare Stimme, die weiterhin unablässig "Loneliness" flüstert, wenn auch manchmal etwas abseits, aus dem Mund des talentierten Epigonen Karl Biscuit. Seine Veröffentlichungen erscheinen als alternative Fortsetzung der Bandhistorie, eine Wonne all jenen, denen "Holy wars" als zu "poppig" galt.












Ebenfalls 1985 erscheint Blaine L. Reiningers zweite Solo LP "Night air". Noch ist es möglich, des Nachts mutterseelenallein über den Grand Place zu schreiten, vorbei an den prachtvollen Exoskletten vergessener Geschichte, hinein ins "Interférence" mit seinen flackernden Bildschirmen. Reininger wirkt gehetzt, unwohl. So vollzieht er in seinen Liedern just jenen Spagat, den die Band mit "Holy wars" wagte: persönliches Leid trifft in Popsongs auf gesellschaftskritische Bemerkungen. Eine davon verwirrt mich heute wirklich:
They were riding the Metro into town
listening to the latest noise
Modern girls with headphones on their heads
modern European boys
Βusinessmen in leather overcoats
staring at their wrist T.V.'s
Pale accountants balancing the books
computers resting on their knees
Modern Europe in between wars
wears Japanese technology..
Why start a war when the future's just arrived?
It's a mystery to me

Mystery and confusion
History as illusion
(Blaine L. Reininger - Mystery and confusion)
Laptops? 1985? Blickten die Tuxedomoon Leute doch durch ein magisches Glas in die Zukunft? Die auf den ersten Blick so uniform wirkenden Gestalten jener Zukunft im Hier und Jetzt sind den Menschen der Post-Langeweile Gesellschaft unserer Tage, die sich den Arbeitsweg mit allerlei Gadgets versüßen, sehr ähnlich. 
Vergnügte in uniformen Städten. Ziel einer Kritik, die seit dem Beginn der 80er der Gesellschaft eine Sinnkriese diagnostizierte. 1982 erscheinen Vorlesungen von Manfred Frank, welche jenen Gedanken unter dem Titel "Der kommende Gott" aufgreifen. Wer da kommen soll? - Dionysos. Er entsteigt jener eingeforderten "Wiederaufrichtung mythisch-religiöser Sinnzusammenhänge“*, dieser Tage. Ein Bestreben, daß  seit der Romantik den weltlich technokratischen Sinngebungen (oder Sinnleeren) trotzt, bei Nietzsche enorme Popularität erreicht und durch die Ideenwelten von Nationalsozialisten, Hippies und New Agern streift, mal als tanzender Bacchus, mal als alles einende, mörderische Vision.
Auch die sich betont apollonisch gebenden Tuxedomoon verstehen den Anspruch und seinen Sinn, schrecken dann vor dem eigenen Songtitel "Hugging the earth" doch zurück und kürzen ihn schamvoll ab: „H.T.E.“. Trotz aller Effekte und Dissonanzen kann das sperrige Stück seine Botschaft nicht verbergen: es gibt nur eine Erde, "It's all we got to last this night".
Tuxedomoon suchen auf dieser Erde nicht das große "Wir", eher eine Notgemeinschaft. Und selbst um den Willen des Erhalts dieser, in wirtschaftlicher Ausbeutung geschundenen Erde will kein heiliger Krieg ausbrechen. Vielleicht aufgrund des unversöhnten Widerspruchs zwischen dem Irdischen und dem Heiligen. Tuxedomoons Wortgeber hadern mit dem Dasein hier vor Ort: Überdruss am Leben, das, in den Worten des spanischen Heiligen und manieristischen Dichters San Juan de la Cruz, ja eh nur ein konstantes Sterben ist (St. John), vergebliche Suche nach Liebe (Some guys), Liebe, die nicht lebbar ist (Bonjour Tristesse) oder vor deren Offenbarung die Sprache versagt (In a manner of speaking), Gewalt und Verdruss statt Liebe (Watching the blood flow) und am Ende doch wieder der Einzelne, der gerade ein Geschäft betritt: "to buy something, a little nothing, to fill up the hole in his heart" (Egypt).
Keine Soldaten eines heiligen Krieges. Verzagte, auf allen Seiten. Diese Seiten existieren noch, ein letztes Dagegen, wenn der (auch aus Peter Heins Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes bekannte) Vers "Me I never got what I want and don't want what I have" (Watching the blood flow) am Ende des Stücks zu "Me I never got what I want and don't want what you have" gewendet wird. - Dann wenigstens nirgendwo hin, als mit den Anderen zu trotten.
So ist es doch ein Drama, ein unentwegtes, indes nur aus der Perspektive der oppositionellen Minderheit, der wenig mehr als die Verweigerung und eine unstillbare Sehnsucht geblieben ist. Ob als Gefühl oder als Stimmung versagt sie sich der Erfüllung. Doch wenn es genau danach verlangt, dann könnte ja vielleicht eine Emotion obsiegen! Falls es das Warenangebot im  Shop nicht richtet, würde Dionysos in seiner Identität als Bacchus vergorenes Getränk anbieten, im Dienste des befreienden Taumels oder aber die Gewaltexzesse der Bakchen, jener im Blutrausch rasenden Frauen, deren Ekstase auf seltsamen Wegen hin zur größten Differenz zwischen dem Gestern von vor 30 Jahren und dem Heute führt: Es gibt sie wieder, die heiligen Kriege.
Interessant, wie die Deutungen ihres Anlasses von "weltlichem Machtkalkül" über "interreligiöse Spannungen" bis zur "Sehnsucht nach der Apokalypse" reichen. Auf wen treffen wir, an den Rädern dieses Spektrums? Erstmal auf solche wie wir, die eine Leere oder was auch immer mit iPhones, iPorsches oder iPetromilliarden stopfen wollen und falls ihnen der legale Zugang fehlt, alternative Wege beschreiten. Doch was, wenn sie nicht dieser Logik folgen? Wenn ihr "Don't want what you have" eine komplette Absage bedeutet, vielleicht so komplett, wie das "Nein" jener Sekten zum Ende des Age of Aquarius, nur ohne deren Autoaggression? (Man darf nicht vergessen, daß "Der kommende Gott" auch die Selbstentmannung kennt und daß die Sinnkriese der frühen 80er zum Teil im Schatten sektischer Massenselbstmorde befunden wurde.)
Klar ist, weder Tuxedomoon, noch Manfred Franks Vorlesungen oder Byung-Chul Hans Thesen können zu diesem Anderen vordringen. Auch das entleerte Leben, was an sich leidet, verinnerlichten Ansprüchen folgt oder hedonistisch feiert, will das Irdische. Sein Tod ist der stille Suizid. Wenn mit ihm kokettiert wird: "Smiling like you looked at death and liked it", "God hear me, what I say is true, I do not want this life“, dann klingt es erst heute wieder nach heiligem Krieg. Ein heiliger Krieg, in den es auch Dionysos zieht, Regeln predigend, die das Wüten rechtfertigen sollen.












Nein, Tuxedomoon wussten weniger vom Kommenden, als daß sie gut beobachteten. Als desillusionierte US-Amerikaner wären die kämpferischen Songs, die 1984 aus Großbritannien schallten, eh nie ihre Sache gewesen. Die Grenze zwischen Bohème-Perspektiven und Arbeiterkampf war ihnen klar. "Holy wars" trägt nicht den Schmerz verlorener Hoffnungen, wie er in den pessimistischen Momenten von Style Councils "Our favourite shop" anklingt und den resignativen Ton der Singles des folgenden Jahres prägt. Tuxedomoon hätten sich nicht nach dem Scheitern ihrer Mission aufgelöst, wie die Redskins. Sie hatten gar keine. Was sie aber mit verblüffender Einsicht vermochten, war, den neuen Typus, den Gewinner der vorgeblichen Nach-Klassengesellschaft zu skizzieren. In ihren eigenen kleinen Tragödien, fanden sie sogar das Leiden des vergnügten Menschens, der heute, ein Handheld im Griff, durch die Straßen flaniert und pflichterfüllt die Freiheit preist, welcher er sich gerade selbst beraubt. Ihre Opposition konnte nicht mehr sein, als ein persönliches "Nein", ihre Verstricktheit war stets offenbar. Das ist die Leistung von "Holy wars", auf dessen Cover eine Flamme die Luft entzündet, eine von Bernard Faucons kleinen Apokalypsen, unbeabsichtigt eine Vorwegnahme der Welt in 30 Jahren. Auflodernde Paradoxe, bedrohlich aufgehizte Energie.
Dionysos ist alt, die mit seinem Erscheinen verbundene Unruhe ebenfalls. Die neue Weltordnung ist möglicherweise auch älter, als Tuxedomoon oder Byung-Chul Han es vermuten. Inmitten der bildsprachlich so klar strukturierten, von Klassen geprägten Masse aus King Vidors 1928 entstandenem Film "The crowd", träumt der Held vom persönlichen Glück, einem, welches sich erstreben und erkaufen liesse. Er ist bereit, für ein paar Schritte auf der Karriereleiter alles zu geben. Die "neuen Machttechniken" aus dem Untertitel von Hans' Buch sind sicher viel älter als der Neoliberalismus. Was verschwand, sind die Klassen, entweder faktisch, als in ferne Länder ausgelagerte Arbeitsplätze oder als finanziell bestens versorgte Facharbeiter, sowie vor allem im Habitus, in der Mode, mit ihrer Konformität aus Jeans und T-Shirt und im Wissen der Eliten, daß ihrem System kein Gegenentwurf mehr drohte. Bis die heiligen Kriege wieder begannen - in ihren grausamen Alternativen.

Und wieder eine Welle, aufs Neue nimmt sich ihre schale Schaumkrone etwas vom Sand. Zeit, die Stufen hinauf auf die Promenade zu steigen, nicht etwa erwägen, sich in passiver Romantik mittreiben zu lassen, sei es auf Wellen aus Wein oder aus Blut. Soll Dionysos rufen. Was so nachhaltig von "Holy wars", "Night air" und dem mysteriösen "A propos d'un paysage" in Erinnerung bleibt sind weniger Emotionen, als denn die Stimmung des Melancholikers, des Beautiful Losers, jenem Verzagten, der letztlich doch das Leben liebt. Ob die Flut in ihren ewigen Walzerschwüngen von all dem weiß? 
Tuxedomon - Holy wars - Crammed Discs, 1985
Blaine L. Reininger - Night air - Another Side - A Division of Les Disques du Crépuscule, 1985
Benjamin Lew / Steven Brown - A propos d’un paysage, Crammed Discs, 1985
Karl Biscuit - Regrets Eternels, Crammed Discs, 1984
Byung-Chul Han - Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken - Fischer Wissenschaft, 2015
Manfred Frank - Der kommende Gott - Vorlesungen über die neuen Mythologie - Edition Suhrkamp, 1982
King Vidor - The Crowd - MGM, 1928
Style Council - Our favourite shop, Polydor, 1985
Style Council - Groovin’, Polydor, 1984
Redskins - Keep on keepin’ on, Decca, 1984
Einige tragbare Computer und Laptops vor 1985: 1975: IBM 5100, 1981: Osborne 1, Epson HX-20, 1982: Dulmont Magnum, GRiD Compass 1100, 1983: Gavilan SC und Sharp PC-5000. Kann mich aber nicht entsinnen, je jemanden damit gesehen zu haben, erst recht nicht im öffentlichen Nahverkehr. Mag sein, daß das in Brüssel anders war. Woran ich mich entsinne sind die programmierbaren Taschenrechner, welche in den frühen 80ern populär waren.

* genanntes Werk, Seite 9.

Freitag, 13. Februar 2015

Steve Strange 1959 - 2015

 

 

 

 

 

 

Danke für die Nachtclubschull!

Als ich 1980, an der Schwelle zur Jugend, Visages "Fade to grey" erstmals hörte, dachte ich, mit dem neuen Jahrzehnt habe wirklich eine neue Zeit begonnen. Plötzlich gab es eine Alternative zu den Ökos in ihren Parkas und den Metal Hörern. Ich weiss nicht mehr, ob damals das unfassbare Video zu Fade to Grey in "Disco" oder irgendwo anders gezeigt wurde, sollte ich es gesehen haben, wäre mir einiges klar - und wahrscheinlich habe ich es dann so verdrängt, wie 1978 "Das Model" gehört zu haben, weil es einfach wirklich zu früh für seine Zeit war. Dabei hat man Steve Strange oft vorgeworfen, wenig mehr, als eine bowieske Kraftwerk Kopie abgeliefert zu haben. Selbst der eigenen Band schien ihr Projekt Visage teilweise im Nachhinein peinlich. Letztlich illustrierten die Vorwürfe an ihn aber nur den ewigen Rockismus, der auch in Namen von Punk weitergeführt wurde. Daß es etwas tolleres gibt, als sich biertrinkend rumzuschubsen, daß wusste Strange nur zu gut und er öffnete wortwörtlich dafür den Raum. Hatte letztens die Ehre mit einem "Blitz Club" Veteranen zu reden, über den Glamour, den enormen, selbstdestruktiven Hedonismus und diese gar nicht unterschwellige Dunkelheit, die einerseits in Leigh Bowerys "Taboo" und andererseits in die Gothic Szene des "Bat Cave" mündeten. Es wurde auch angedeutet, daß es Strange nicht allzugut gehe... 

Hätte Steve Strange gerne mal kennengelernt. War vielleicht nicht der liebenswürdigste Zeitgenosse, aber ich hätte mich gerne bei ihm dafür bedankt, mich vor einer langweiligen Jugend bewahrt zu haben!

"Die Schlag auf den Amboss in der Nachtclubschull" 
https://www.youtube.com/watch?v=ZL4MBqxjYFE

Dienstag, 27. Januar 2015

Nach der Zeit - Musikliste 2014

Es war dann auf einmal keine passende Zeit, sich mit Musik zu beschäftigen, ist es vielleicht immer noch nicht. Aber das war es nicht allein, wollte über das Jahr noch ein paar Worte verlieren und suchte nach den Richtigen. Ich würde immer noch suchen, aber es muss ja auch mal gut sein.

LP's

1. FKA twigs - LP1

2. Mr. Twin Sister - Mr. Twin Sister

3. David Crosby - Croz

4. Fear of Men - Loom

5. Sean Nicholas Savage - Bermuda waterfall

6. D’Angelo and the Vanguard - Black Messiah

7. Lydia Ainsworth - Right From Real

8. Paco Sala - Put your hands on me

9. Warpaint - Warpaint

10. Serge Fiori - Serge Fiori

11. Valis - The demolished man

12. Arca - Xen

13. Zara McFarlane - If you knew her

14. Felizol & The Boy - Like Cannibal Father Like Cannibal Son


Ausser Konkurrenz: These New Puritans - Expanded - Live at the Barbican


Singles und EP's

1. Future Brown - Wanna party

2. New Jackson - Of a thousand leaves

3. Oceaán - The Grip EP

4. Evy Jane - Closer EP

5. Clarian featuring Jess Cardinal - Mirror of The Sun

6. Dum Dum Girls - Rimbaud Eyes

7. September Girls - Veneer EP

8. New Jackson - Having a Coke with you

9. Powell - Club music

10. Viet Cong - Cassette EP

11. Golden Teacher - Party People

12. Crooked Man - Undigitize EP

13. Shield Patterns ‎– Dust Hung Heavy

14. Shift Work - Scaled to fit EP





 










 Just get so high and stop your doubting

„Vinyl Sales Hit Record High in 2014“ titelte die Times zu Beginn des Jahres. Klar, vielleicht nur ein modischer Trend, doch gibt es zumindest zwei gute Gründe, mehr zu vermuten. Zum einen ist der finanzielle Aufwand einer Schallplatte guten Klang zu entlocken weit geringer, denn bei einer CD, deren Datenreihen während der Rückverwandlung in analoge Gestalt vom nervigen Zerren digitaler Taktfehler aus dem Fluss gebracht werden. Jedoch, wen interessiert’s, wer setzt sich heute noch ins Stereo-Dreieck? Diese Ära endete in der Popkultur circa zu jener Zeit, als sich Electro Voice aus dem Consumer-Bereich zurückzogen und Flokati-Hörräume mit Bodensitzgelegenheit von den Hifi-Messen verschwanden. Doch da wäre noch Grund zwei: der Fetisch, die versuchte haptische und optische Entsprechung der Klänge.

Schlichtes weisses Standard-Lochcover, schwarze, gefütterte Innenhülle, auf dem weissen Label in grobem Courier nur das Wort „Twigs“. Die perfekte Anlage des Jahres 2012,  bei aktuellem Kurs könnte sie mit jährlichen Zinssatz von 300%. aufwarten. Natürlich nur fiktiv, keine Ausschüttung, wird eh behalten, Fetisch-Objekt? -Vielleicht.
Sich im Angesicht der Frage, wer oder wie man so sei, selbst als Objekt zu betrachten, war bislang FKA twigs maßgebliches Experiment. Mehr ein suchender, als denn rein ästhetischer oder spekulativer Ansatz, daher auch interessant. Und neu, denn lediglich spielerisch traf im Cyber-R&B der späten 90er ein wachsender Strom digitaler Daten auf Bilder des Körpers, schuf cellophanartige Transformer aus gepixeltem Wunderzeugs oder aus Matchbox-Blech. Doch seine, mitunter rustikal gemorphten, Stimmen sangen Statements und in ihnen war wenig Raum für Fragen, jenseits von Aaliyahs: „Are you responsible?“. Wohin sie uns auf der Suche nach der Antwort noch geführt hätte, werden wir leider nie wissen, aber als Aaliyah „Rock the boat“ einspielte, war bei ihr die Idee einer futuristischen Musik längst dem Spiel mit weit klassizistischeren Yacht-R&B gewichen, immerhin: es klang wundervoll.

Nein, ganz neu ist es dennoch nicht. Eigentlich singt FKA twigs aus einer Welt, die Pop erstmals mit Essra Mohawk in der Melancholie von „Primordial Lovers“ betrat, als übernächtigte Hippie-Grazie, grübelnd, welche Form sie wohl annähme, wenn sie sich als Objekt einer Sehnsucht, eines Verlusts oder einer Erfüllung vorstellt. Welche Beziehungen und Abhängigkeiten entstehen?
Vielleicht gibt es eine noch ältere Quelle mit „I only have eyes for you“ in der Version der Penguins. Ihre psychedelische Vision des Verliebtseins als sensuelle Entgrenzung fand aber im erdigen R&B kein wirkliches Echo. Soul widmete sich Jahre später auf seine Weise dem Thema, existenzialistischer, als organisches Blühen oder selbstgewisses Leiden. Dagegen hier nun das Artifizielle: der Kopf der Künstlerin als Töpferarbeit vor monochromen, aus dem „Water me“-Video vertrauten Blau. Nicht ganz makellos aufgrund der handgefertigen Oberfläche oder ist es doch nur die verletzliche Haut, rot eingefärbt, Make-Up und Brandfarbe der Keramik, alles gleichsam Wundmale?
Dem Album liegen vier Kunstdrucke bei, in denen Jesse Kanda Twigs’ Antlitz manipuliert, als sei er der grausam begeisterte Nachbarsjunge Sid aus Toy Story. Die Drucke scheinen wie kolorierte Analogien auf Twigs gemorphte Stimme im Sound der Produzenten. Kandas Antwort auf Aalyahs obige Frage wäre wohl: „No, potentionally not responsible.“ Aber das muss so sein. In diesem nicht befriedeten Miteinander findet FKA twigs ihren Ort, ob nun als reiner Klang oder verletzlicher Mensch und zelebriert zwischen diesen Polen ihre Transformationen in unbekanntes Terrain.
Identitätslos, als düstere Männerphantasie, exploriert Twigs’ Produzent Arca auf seiner ersten Solo LP die Verwandlung als Mutation, hier passen Kandas Bilder noch besser. Arca spielt mit dem Vorgefundenen, ohne sich dabei in eine Relation setzen zu müssen - der schreckliche Nerd vor dem Laptop? 


Dies bedeutete 2014, den R&B nach über 70 Jahren 
aus seiner Rolle als Funktionsmusik zu befreien.
 
Demhingegen war die weibliche Stimme im R&B stets prekär. Sie proklamierte einst eine Unabhängigkeit von der Kirche, von der entrückten Gospelstimme und ihrer energetischen Version des Belcanto. Jenseits althergebrachter Regeln eroberten La Vern Baker oder Ruth Brown groovig dröhnend, kieksend und fauchend eine Freiheit, die vielleicht weniger wagte, als manche Blues Sängerin der 20er. Allerdings war aus der im Leben stehenden Erwachsenen, ein aufmüpfiges Teen- oder Twen-Girl mit Aussicht auf Star-Ruhm geworden. Diese eroberten Möglichkeiten weiterzuspinnen und just den vor einigen Zeilen weiter oben abgewickelten Faden der Penguins wieder aufzunehmen, hieß anno 2014, den R&B nach über 70 Jahren aus seiner Rolle als Funktionsmusik zu befreien. Es war seit dem BeBop stets Vorrecht des Jazz, später dann des progressiven Rocks und vereinzelt des Souls, nicht zum Tanze aufzuspielen. Nun fordert R&B das reine Zuhören. Ja, stillsitzen im Stereodreieck, den dreidimensionalen Sounds und der meist hoch emotionalisierten Stimme folgen, hören, was sie zu sagen hat. Wenn auch wahrscheinlich nicht aus den Hörnern und Tweetern alter Electro Voice Lautsprecherboliden.

Und dann lassen sich die abgedruckten Texte nicht entziffern? Das Scheitern am Schriftgrad hat Methode, es verführt zur Verwendung der beigelegten Lupe. Im virtuellen Spiel mit den gebündelten Lichtstrahlen fährt die fetischisierende Sammellinse irgendwann von den Worten zu den Details der Portraitphotos. Ohne mehr über die Substanz des Gesichts in Erfahrung bringen zu können, simuliert die Lupe dennoch weitere Verformungen und vollendet die Metarmophose des Zuhörers in einen verstohlen obsessiven Otaku-Charakter. Musik, Grafik und Fetisch als entlarvendes Kinderspiel, der übliche Sündenfall.
Am Rand der Lupe, im gewohntem Courier: „I love another, and thus I hate myself“. Twigs’ in „Preface“ choralgleich intonierte Absage an Descartes - und an Dich. Es sei, Du wärst der Andere. - Im Video von Lucki Eck$ „Ouch ouch“ ist der Andere jedoch eine kleine Schlange in Twigs Schlafzimmer. Nichts geschieht, ausser, daß die Justine des Bedroom Souls dem Anliegen des Otaku-Fetischisten nicht ganz entspricht, kein Apfel wird verspeisst. Der identifikatorische Charakter der Musik bleibt dem verdinglichenden Begehren verborgen. Beim Konzert waren dann Beide zugegen, die Gaffer und jene, welche die Texte Wort für Wort mitsangen.


Demgegenüber der Diskurs, 
der Identifikation nicht schafft, 
sondern dekonstruiert.
 
Mit Twigs bleibt Pop eine Kommunikation, die Verwirrung stiftet. Wer sind die Hörer, wer kauft da Platten? Reden wir miteinander? Und was machen wir aus dem Anderen, der Schlange wegen der wir uns verzehren und hassen? FKA twigs stellt ihre Fragen biographisch oder zumindest psychologisierend. Begehren und Identität werden verformt, geprüft, neu formuliert. Sie legt nah’, sich mit ihrer Suche zu identifizieren, sich drauf einzulassen, sich verwandeln - die alte Pop-Forderung und Verheissung.
Demgegenüber der Diskurs, der Identifikation nicht schafft, sondern dekonstruiert. Dean Blunt und Fatima Al Qadiri fanden sich in diesem Jahr an der Spitze einiger hochrangiger Listen. Ihre diskursive Verwertung angeignetem und weiterverarbeitetem Materials erzählt von einer Freiheit und einem Dagegen nach der Rock-geprägten Ara der Popmusik. Nicht als Strom aus Geräuschen, sondern sehr wohl als hochcodierter Song, aber jenseits des Appells, irgendwo unbedarft mitzumachen, entsteht als Appropriation sowie im Abarbeiten an 90er R&B, Grime und aktuellem HipHop, die Klang gewordene Fusion von Cultural Studies und High Art Ideen der Subversion. Was in den 90ern noch probte, vielleicht irritiert von nicht abzulegenden Rock-Posen oder der Freude am Track, hat sich nun manifestiert.

Faitma Al Qadiri ist auch Mitglied der Avant Streetwear Ikone Future Brown, deren „Wanna Party“ sich mittels Tinks Rap sogar eine schnoddrige Aggression leistet. Future Brown und andere halb virtuell agierende Bandprojekte sind die Zukunft. Politischer als ihre Vorgänger, fast wie eine Rekapitulation des Ansinnens von Heaven 17, aber fern deren Altherrengestus. Seltsam, wie D’Angelos Wiederkehr nach 15 Jahren eine alternative, aus der Zeit gefallene Interpretation dieser Aktualität anbot, als Echo auf eine Welle ungesühnter, rassistischer Polizeigewalt gegen Schwarze. Dabei wirkt die umherschweifende Musik kaum drei Jahre jünger als die des Vorgängers „Voodoo“, sie findet jedoch in den Texten eine neue Dringlichkeit.
Die Verwandlungen des Politischen, sowie das Verhandeln diverser Konzepte der Identität erstrahlen im Pop so hell wie seit Langem nicht. Auch wenn sie nicht mal mehr den Eindruck erwecken, Welten zu bewegen, war es für Pop sicher kein „Scheissjahr“- Vielmehr relativiert sich die Idee des Fetisch, denn sie verkürzt zu dramatisch und übersieht, daß auch Pop-Kultur weiterhin ihr Werk als etwas Materielles versteht. Neu mag sein, daß es überhaupt wieder Werke gibt, statt der männlich überhöhten Pose davon, welche seit den 90ern die Popwelt prägte. Wie Warpaint, die Smoke Fairies oder selbst eine Artschool-Band wie Fear of Men in kleinen, nachvollziehbaren Schritten an ihrer musikalischen Entwicklung arbeiten, erschient auf einmal wieder spannend, gar nicht konzeptuell überfrachtet, sondern dem schlichten Wunsch geschuldet, die eigene Musik noch besser hinzubekommen, sie weiterzuführen. Manchmal glücken in solchen Entwicklungen große Sprünge. Zwei durch das Net kursierende frühe Aufnahmen von Twigs zeugen als richtungslose Stilsuche ex negativo davon. Doch statt einen Masterplan auszuhecken, gewinnt Pop wohl doch meist durch Zufälle und Arbeit, wenn auch nur selten in jener Vollendung von Mr. Twin Sister. Darin scheint die erzwungene Modifikation des Bandnamens als präzise inszenierter Schritt in einem ausgeklügelten Masterplan. Doch dieser, von Anbeginn nicht wirklich beizukommenden Band gelang es einfach nur, dreamigen Gitarren Pop in eine Vision der Clubidentität zu transformieren und damit ein enorm anziehendes, aber jenseits von Factory-Records und 4AD der 80er meist zum Scheitern verurteiltes Projekt auf die Füsse zu stellen. Und es ist keine Referenzsuppe. Stattdessen erläutert Sängerin Andrea Estella, in ihrem jedes „i“ kunstvoll akzentuierenden Stil, die Essenz dessen, was Pop am Ende zu bieten hat:
Blow my sorrows away,
Warm my cold heart,
I want to recognize you but I don’t know who you are,
Is this romantic dreaming?
Is this just an illusion?
Is this romantic dreaming?
A memory?
I’ve forgotten everything.


Just get so high but maybe don’t stop your doubting.

Freitag, 16. Januar 2015

Ein paar Gedanken zu Kim Fowley (1939 - 2015)

Die kleinen Geschichten zu Spät Gekommener aus der Ferne über jene, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren

Als ich gestern Nacht von Kim Fowleys Tod las, postete ich nach kurzer Suche das erste Stück, was ich je von ihm hörte auf mein Facebook-Profil: "The face on the factory floor". Einer Spex-Rezension folgend hatte ich blind "Bad news from the Underworld" im Plattenladen geordert. "Ah, auf Lolita, so ein 60s Label" meinten sie noch beim Heartbeat - und dann das Cover, der scharfkantig verknitterte Typ mit eiskalt stechendem Blick in der roten Lederjacke, Cowboystiefel über die Arme gestreift, wirklich verstörend, im Gegenzug zu so mancher Post-Industrial Angstmacherei, die der wundervolle Laden im Programm hatte. Wie das klang, was so gar nicht zu passen schien, wollten sie dann doch wissen, nach der Hörprobe orderten sie ein Exemplar für's Regal ... P-p-p-p-polaroid p-p-p-p-people.

Vielleicht war das sein Rezept, sich einschleichen und sichtbar Platz nehmen. Einfach das, was er aus sich, als kränkelndes Kind, als schillernde Figur mit seinen Obsessionen und seinem Talent rausholen konnte: auf eine enorm ungelenke Weise sein noch weit enormeres Gespür für Trends zu zelebrieren. Eigentlich hatte ich ja längst von ihm gehört, er, der "King of the Night Time World " auf Kiss' "Destroyer" und als "Torpedo"-Sample auf der "Unmasked" - wusste ich nur nicht. Sehe mich heute noch eine gekoppelte Ausgabe von "Outrageous" und "Good clean fun" wieder ins Fach des Second Hand Ladens zurückstellen, bei Discogs gibt's die aber gar nicht, vielleicht nur ein Popbubi-Traum. "Visions of the Future" kam dafür mit, das mit Skip Battin zusammen geschriebene "ESP Reader" hab ich zig Leuten auf irgendwelche Cassetten-Compilations gepackt. Es steht dem Stück, daß es sich einer Web Präsenz entsagt. Es passt zum Text und sicher zu den tausend kleinen und mittelgroßen anhängenden Geheimnissen, die Fowley vielleicht nicht mal seinen besten Freunden verriet. Zur realen Erscheinung Fowleys passte es sicher nicht. War er überhaupt wirklich real? Einmal schien mir so, als er auf der noch locker zu enternden Popkomm mit Kurt Kreikenbom verabredet war. Da tauchte er in der Menge auf, markant, irre groß, irre dünn in einem blauen Anzug, wenn ich mich denn recht entsinne. Die Präsenz eines Marquis de Sade der bei jeder der in "Rock Dreams" skizzierten Rolling Stones Parties seine irre schmackhaften Käsekracker zum geheimem Top-Seller machte. Koks und Sünde umsonst, aber Kims Käsekracker für 12 faire Dollar, davon schwärmen sie heute noch - so stellte ich ihn mir vor und hatte ein wenig Angst. 

Die wahren Geschichten habenin meinem Bekanntenkreis viel eher Kurt oder Jan Lankisch (der 2012 Fowleys letztes Konzert in Köln orgnisierte) und jenseits davon zig andere zu erzählen. Ich mochte ihn aus der Ferne, wär auch nicht näher dran gekommen und wünschte, der Mythos hätte nicht irgendwann auch die Macht über sein enormes musikalisches Vermögen gewonnen. Das Monster lebt. Aber wenn dem wirklich so sein sollte, dann hat er es auch gewollt. Dafür führte er ein Leben in Unmöglichkeiten: die English Disco, also bitte, die kann sich doch nur ein Todd Haynes ausgedacht haben (vielleicht nach einem Besuch im King Georg) und jemand der auf der ersten Zappa auftaucht, dann dem leidenden Gene Vincent zur Seite stand, Minderjährigen zu was weiss ich und Popruhm verhielf, sowie den vier Modern Lovers Gene, Paul, Ace und Peter erzählte, wie der Hase läuft, wenn er denn nicht gerade hoppelt oder in dunklen Erdlöchern verschwindet, so einer kann eigentlich sowieso nur ein moderner Mythos des Popzeitalters sein, eine Idee, eine Maske. Es sei, es hätte ihm die große Vicky Leandros einmal die Hand aufgelegt, dann, ja dann würde ich ihn mir als einen Lachenden, Verzweifelten, Siegenden und Leidenden unter uns vorstellen. Aber das wäre ja alles zu irrwitzig, als daß es wirklich jemals hätte sein können.

Montag, 5. Januar 2015

Vor 15 Jahren: Spex 232: D'Angelo / Angie Stone

Die Weltpresse preist nahezu im Unisono D'Angelos neues Album "Black Messiah". 15 Jahre dauerte das Warten. Fast schon ulkig, daß der folgende Text zu dem Vorgängeralbum "Voodoo" ebenfalls aus der Perspektive des Wartens geschrieben wurde, wo doch lediglich fünf Jahre seit seinem Debüt "Brown Sugar" verstrichen waren. Der Artikel beschreibt den Höhepunkt des Rimshot-Retro-Souls, sprich Questloves Beat und die Okayplayer Schule. Ebenfalls sehr prägend fungierten ex Tony! Toni! Toné! Musiker Raphael Saadiq und Amir Shaheed Muhammad von A Tribe Called Quest. Dieser Sound war nicht so sehr die Reproduktion eines gewissen Stax- oder Muscle Shoals-Klangbilds der 60er, welches den heutigen Retro-Soul auszeichnet, sondern er suchte nach der Klassik in der Moderne oder - wie es der Text nahelegt - nach der Seele in einer Musik zweieinhalb bis drei Jahrzehnte nach dem Höhepunkt des Singer-Songwriter-Souls. Die kanonische Nennung von "Marvin, Stevie, Curtis" erhielt in jenen Zeiten bald einen stereotypen Charakter. Doch für die Interessanteren - und zu denen zählten D'Angelo und Angie Stone nun zweifelsfrei - waren auch die 80er, ein Thema, vertane Chancen, Prince, zu große Schritte oder Stagnation? (Tatsächlich ebneten sie  mir in diesen Gesprächen einen Weg zurück zu Sades Platten.) Noch schien HipHop der Beweger einer aktuellen, sich mit dem Begriff des Authentischen umgebenden Musik. Noch war es nicht an der Zeit auf Spannung zwischen der Idee des Authentischen und dem Retro-Geist der Klänge zu verweisen, denn diese Musik wollte noch in ein Morgen. Ein Morgen, welches wortwörtlich anbrach, als mich D'Angelo in seine Welt mit ihrem ganz eigenen Timing einführte. Ein irgendwann gegen 17 Uhr mitteleuropäischer Zeit angesetztes Interview begann mit einem Anruf aus L.A. circa 1 in der Nacht. Das Tolle, ich hatte die verstrichene Zeit mit der nochmaligen Lektüre von Hubert Fichtes "Xango" verbracht und D'Angelo wiederum einen Freund im Krankenhaus besucht. Das folgende Gespräch blieb mir weit lebendiger in Erinnerung, als die meisten Interviews. Mag sein, daß seine Bedingungen eine Rolle spielten, auch daß seine Aussagen jene Angie Stones so gut ergänzten, obwohl der Kontakt beider in jenen Tagen wohl eher dünn war. Kürzlich sah ich, daß sie in Australien wieder zusammen aufgetreten sind. Daß 15 Jahre bis zu einem weiteren Album verstreichen würden, hatte ich nicht geahnt, wenngleich die Last auf D'Angelos Schultern nach "Voodoo" noch schwerer wog. Der Retter einer Musik, die auf einen Retter wartete. Das war zuviel, Angie Stone versuchte es hier bereits zu sagen. Seine wenigen Ups und häufigeren Downs gingen zum Teil durch die Presse, während ihr eine Karriere glückte, jene letzte Chance, die sie vermutet hatte. Sah sie einmal mit enorm erkälteter Stimme auf einer Bühne nicht aufgeben. D'Angelo wiederum sah ich damals noch im selben Jahr beim Axion Beach Festival und es war wie ein in Zungen fabulierendes Mardi Gras. Heute klingt seine Rückkehr weniger nach jenem Aufbruch ins Abstrakte, sondern wie eine Weiterführung des Gefundenen zwei Jahre später. Warum es 15 wurden, werden andere erzählen.

Spex 232

März 2000 - D’Angelo / Angie Stone


Spuren


Ist Erinnern retro?


Es war still geworden. Nicht, dass alle wirklich aufgehört hätten zu reden - Im Gegenteil. Der Raum zwischen den Wörtern schrumpfte, bis still und klammheimlich jedes Echo verklang, denn mit dem Raum, so lehrt es die Akustik, verschwindet auch das Echo. Kaum jemand merkte was, aber einige spürten, dass die Musik nicht mehr so war, wie sie es kannten, von früher her: alten Schallplatten, der Kirche, vom Gospelchor vielleicht. Doch es musste diesen Klang noch Immer geben und jemand musste wohl auch in der Lage sein, ihn mit Sinn zu füllen. Wie in den Songs deren Worte nicht gänzlich unabhängig, als eingängige Werbeslogans, neben den Sounds herplapperten. Wo war die Tiefe, die, egal wie zum Klingen gebracht, als Essenz dieser Musik innewohnte? 


Doch nicht viel bleibt auf Dauer. Und was bleibt, wird vielleicht auch vergessen, liegengelassen, über- sehen. Dann, wenn es jemand findet und aus irgendeinem Grund als bemerkenswert erachtet, ist es zu einer Spur aus einer anderen Zeit geworden. In einem Steinbruch an der Westküste Frankreichs wurden rund 96 Millionen Jahre alte, in Bernstein eingeschlossene Insekten gefunden. Wie der Paläontologe Didier Neraudeau von der Universität Rennes am Mittwoch dem 15. September 1999 mitteilte, handelt es sich um die  ältesten jemals in Europa entdeckten Insektenfunde. 


Vielleicht am selben Tag tippt ein eifriger Journalist den Pressetext zu dem so lange erwarteten zweiten Album von D'Angelo und datiert ihn 9/99. Dabei kennt er von »Voodoo« nicht mehr als den Titel und einen 6-Track-Sampler, von dem ein Stück bereits seit längerem als Single veröffentlicht ist und ein anderes nur als kurzes Fragment existiert. aber schon als im Dezember 1998 »Devils pie« erschien, war D'Angelos neuer Longplayer überfällig, gemessen an dem Veröffentlichungsturnus, der einen im Gespräch hält. Und knapp ein Jahr später ist es ein offenes Geheimnis: Das junge Genie hat massenweise Material angesammelt - also was hält ihn ab? Perfektionismus? Angst?


Beides wäre nachvollziehbar, denn kaum eine Soul/R&B-Platte der 90er wurde dermassen bejubelt, wie das Debüt des damals 20-jährigen „Brown sugar« war ein Statement, ein reduziertes, jazzig- relaxtes Album, nach dem Retro-Nuevo-Stil der 80er war es die nächste Stufe der Rückbesinnung auf die großen Namen der Soulgeschichte, und trotz seiner gleichzeitigen Verwurzelung im HipHop eine Absage an eine Musik, die sich über das sie umgebenden Business definiert und dem fetten Geld mit fetter Produktion nach der Nase tanzt. Ähnliche Platten folgten: Erykah Badus »Baduzim«, Rahsahn Pattersons Debüt, einiges vom Refugee-Clan und aus London Lynden David Hall. Doch D'Angelo verkrachte sich mit seinem Produzenten, dem selbsternannten Protege des neuen Retro-Sounds und Top-Talentscout Kedar Massenburg. So erscheint nur noch eine kurze aber hübsche Live-Platte, dann wird sein US-Label aufgelöst und er muss sich um neue Verträge kümmern. Während immer mehr Zeit verrinnt. 


Im Zeichen der Referenz


Dann ist er wieder im Studio, alle Interviews, die er» Svor dem sich stetig hinauszögernden Erscheinungstermin von »Voodoo« gibt, scheinen im Studio stattzufinden, die Photosessions auch. Einmal sitzt ein gutgenährter, cremefarbener Kater neben ihm, sein Name ist Jimmy - er gehört hierhin: Electric Lady Studios, NY. Er trägt wohl auch den Geist in sich. Kehrte hier während der langen Sessions etwas zurück oder war es vielleicht nie fort - nur ganz leise geworden, übertönt von dem Lärm der Top 10, auch seines Echos beraubt und auf zweidimensionale Klischees zusammengepresst? Kümmerte sich überhaupt jemand darum, suchte jemand nach den Spuren da draußen?

Heute hat sich »Voodoo« an die Spitze der Billboard-Charts gesetzt, von 0 auf 1. D'Angelo wurde nicht vergessen, nein, sein Ruf steigerte sich ins fast Unermessliche, und man fieberte seiner Platte nach 5 Jahren entgegen wie einst der neuen Prince. Es scheint da auch bei vielen ein Bedürfnis zu geben, in D'Angelo den neuen Prince zu finden, Parallelen gibt es einige, wenn man sie sucht. Beide gelten als nahezu klassische Wunderkinder, D'Angelo spielt Piano seit seinem 5 Lebensjahr, erlernt Bass und Gitarre und beginnt mit dem Songschreiben, bevor er sich das erste Mal rasieren muss. Wie Prince ist er verschlossen in seiner Erscheinung aber von seinem Jugendidol meilenweit entfernt, D'Angelo ist ein zugänglicher Mensch, dem an Glam und Glitter nichts liegt.


Prince könnte (und wird) in »Voodoo« reinhören und Facetten seines Spiegelbildes zwischen den Tönen hervorblitzen sehen, den Prince von D'Angelos Lieblings-LP: »Sign of the times«. Was bei ihm seinerzeit scheppernd auseinanderbrach und ihn ziemlich allein ließ in einer Welt, die er nicht nur als ¡eine beschädigte sah, sondern auch spürte, das hat sich bei D'Angelo in feine Partikel zersetzt, zu leiner impressionistischen, nach innen gewandten Interpretation. D'Angelos Musik platzt nicht heraus, muss auch nicht stolpern, sondern sie sucht nach einem Zentrum in sich selbst, kreist um das Individuum. Der Sound von »Voodoo« kennt vor allem Bässe und Höhen. Auf dem ruhigen, präzisen Miteinander von Bassgitarre und Drums kann man sich ausruhen, die Platte genießen, egal ob zuhause oder im Auto oder im Café, hier wähnt man sich sicher. Ist man in Ruhe allein, kann man mühelos zu den Falsettmelodien seines Gesangs balancieren und im Takt der Rimshots weiterziehen, wie auf dem Kraterrand eines stillen Vulkans, bis man wieder beim Bass ankommt. Aber was ist, wenn das Ohr und der Körper an allen Stellen zugleich sein, alles fühlen will? Mal laden elegante Bläsersätze, Congas oder eine Gitarre dazu ein, eine Brücke über den Krater zu denken und sich im Angesicht des Ungewissen tief, tief fallenzulassen.


Ich höre jeden Abend das Trommeln.
Leise.
Es dauert bis zum Morgengrauen
Es verändert meinen  Herzschlag.
Ich kann nicht im Zimmer bleibem
Ich gehe auf die Suche nach dem Vaudou, von dem her das Trommeln in den bürgerlichen Vorort einsickert.
Ich gehe den Tönen nach.
Schon unterscheide ich die Stimmen der Singenden.
Sie hören auf.
Als das Trommeln wieder einsetzt kommt es von ganz fern, aus einer anderen Richtung.


(Hubert Fichte - Xango)


Herzlichen Glückwunsch zum Chartserfolg. Wirkt er nicht wie eine Befreiung, nach der langen Arbeit?
D’ANGELO: Oh, ja sicher, das tut es. Es dauerte ziemlich lange, zweieinhalb Jahre, das alles zusammenkommen zu sehen und es zum Leben zu bringen. Ja, es ist sehr schön.
Wie bist du mit dem wachsenden Erwartungsdruck klargekommen? 

D’ANGELO: Ich fühlte den Druck, aber ich versuchte mich nicht davon runterziehen zu lassen. Ich wusste, ich machte die Dinge auf die für mich beste Art und Weise. Erst am Ende fragte ich mich, ob das, was ich wollte, wirklich verstanden werden würde.
„Voodoo“ verbindet für mich zwei Pole: auf der einen Seite klingt die Musik sehr entspannt und spontan, auf der anderen Seite hört es sich so an, als sei jeder Ton einzeln durchdacht und ganz bewusst aneinandergefügt worden.
D’ANGELO: Nicht wirklich. es war alles sehr spontan. Weißt Du, ich wollte daß es roh klingt, fast wie ein Demo. Ich konnte das nicht über das gesamte Album machen, aber „Send it on“, „One mo’gin“ oder „The Line“ klingen wie ein Demo.
Was für mich so geplant wirkt ist wie ein bestimmter Vibe - mehr als nur ein Sound die Musik umschließt. Es scheint, als erzähle die ganze Platte eine Geschichte.
D'ANGELO: Danach habe ich gesucht. Auch wenn ich bis zum Ende nicht exakt wusste, wie es klingen wird, hatte ich doch vom Beginn an Visionen, wie es sich anfühlen sollte. Wir haben so viel gejammt und ich konnte nur einen kleinen Teil davon am Ende auf die Platte bringen.
Was ist Voodoo für Dich?
D'ANGELO: Voodoo ¡st ein Ritual der Afrikaner in welchem wir die Vorfahren und Götter anrufen und zu ihnen beten. Wir benutzen dazu Musik, Lied und Tanz. Der Geist ¡st fühlbar. Und das will ich auch mit Musik erreichen, es gibt heute nicht mehr viele die das versuchen. Musik und Spiritualität?  

D'ANGELO: Ja, früher war Musik spiritueller. Ich wüsste es selber aber auch nicht anders zu machen, ich habe in der Kirche angefangen zu sin gen. Du warst da nicht, weil es schick war oder um hübsch auszusehen, du wolltest, dass der Geist dich erfasst. Wenn du dir Typen wie K-Ci&JoJo anhörst, merkst du es auch, sie kommen aus der selben Schule des Gospels.
Hast Du jemals an einer Voodoo Zeremonie teilgenommen?
D'ANGELO: Nein, nein. Ich wurde in einer Yoruba- Zeremonie auf Cuba initiiert. Das habe ich erst kürz- lich gemacht und ich lerne über die alten Religionen, aber ich habe Voodoo nie praktiziert. Ich habe Geschichten von Leuten auf dem Land gehört, in Carolina, die darin verwickelt waren. Und ich habe die Taten Gottes und die des Bösen, des Teufels gesehen, ich weiß, da gibt es Dinge, die wir nicht wissenschaftlich erklären können. Dinge, die wir nicht mit dem Auge sehen können und na ja, ich weiß nicht... [lacht]
Deine Initiation muss ein bedeutender Moment gewesen sein.
D’ANGELO: Ja, oh ja. Ich meine, ich bin da durch gegangen, ich habe es gespürt und ich konnte nichts Böses fühlen. Ich wollte genau wissen, was wir da tun, wie wir es tun. Denn es sollte friedlich sein und so fühlte es sich auch an.

War es so, wie Sly Stone sagt: »Africa talks to you«?
D'ANGELO: Genau so war es. Wir waren auf Cuba, aber ich fühlte mich Afrika sehr, sehr nah. Die Leute! um mich waren für mich Afrikaner, es war dope, da zu sein, weißt du. Es war so anders als alles was wir tun, was wir taten, bevor wir nach Amerika kamen. Ich kenne Videos von Voodoo-Zeremonien und die Art, in der die Menschen vom Geist in Besitz genommen werden, ist für mich nicht anders, wie wenn der Heilige Geist in der Kirche in jemand fährt und die Leute in jungen reden.
Wer schrieb die tollen Sleevenotes zu „Voodoo“?
D’ANGELO: Das war ein Typ namens Saul Williams, ein Autor und Schauspieler, ein brillianter Vosionär. Sein Vater war übrigens auch ein Prediger.
Er kritisiert die männliche Selbstverliebtheit im HipHop. Siehst Du dort zu viel Machismo?
D’ANGELO: Oh, ich bin selber ein Macho, das Album ist macho auf seine Art. Ich habe nichts dagegen, was mich stört ist Ignoranz und Leute, die Musik nicht nutzen, wofür sie bestimmt ist. Musik hat mehr Kraft, als daß man mit ihr nur zeigen sollte, wieviel Geld einer verdient. Klar, wir wollen alle Geld machen, aber das ist nicht alles, wir sollen Visionäre sein, darum geht es.
Gibt es einen Unterschied zwischen Soul und R&B?
D'ANGELO: Definitiv. R&B ist für mich Radio-Bullshit, es ist eine Verbrämung dessen, was mal Rhythm & Blues genannt wurde. Rhythm & Blues und Soul haben eine tiefere Verbindung.
Soul Musik hat einen schweren Stand seit Mitte der 80er...
D'ANGELO: ...aber gerade dann hat Prince seine besten Platten gemacht!

Gut, aber im allgemeinen reduzierte sich Soul zu reiner Balladenmusik...
D'ANGELO: ...ja, ja Luther Vandross...
Und es gab nur wenige Ausnahmen. Anita Baker vielleicht.
D'ANGELO: Oh, sie war dope als sie anfing. Sie und Sade.
Kannst Du dir vorstellen, ähnlich wie Prince, in der Zukunft explizit soziale und politische Themen anzusprechen?
D'ANGELO: Ich habe da keine Angst vor, habe michdorthin auch etwas vorgewagt, aber ich will das nicht forcieren, es wird kommen, wenn es kommen soll. Ich mag es nicht, wenn Leute zu mir predigen und ich will nicht zu anderen predigen. Das Beste ist, von deinen eigenen Erfahrungen zu sprechen.
Wie war es für Dich mit Angie Stone, der Mutter deines Sohnes, auf Voodoo zusammenzuarbeiten?
D'ANGELO: Ich kenne sie so lange und wir haben den selben Background. Ich habe sie damals kennengelernt, als ich auf der Vertical Hold-Platte mit ihr das Duett sang. Ich wusste sie ist ein guter Songwriter, wusste sie war in Sequence. Alles kommt so natürlich, wenn wir Musik machen, da ist nichts Seltsames.


Was ist also heute Soul?


Folgt man D'Angelo, rückt der Gospel wieder ins Zentrum seiner Definition. Gospel nach dem Kontakt mit dem Sex des Rhythm & Blues und der Popkultur des Rock'n'Rolls? Das mag zumindest den großstädtischen Soul der nördlichen Metropolen erklären, aber der wahre Soul, daran lassen die aktuellen Retro- Protagonisten keinen Zweifel, der kommt aus dem Süden.


Angie Stone ist ein Kind des Südens, aufgewachsen und zum Gospelchor gegangen in Columbia, South Carolina. Bis ihr eines Tages ein Konzert der Sugarhill Gang eine völlig neue Welt eröffnete. Mit zwei Freundinnen gründet sie Sequence, zieht nach New York, wo ihre heute fast legendäre Maxi »Funk you up« im November 1979 auf Sugarhill erscheint. Aber keine der weiblichen Old-School-Crews kann sich auf dem Markt etablieren. Angie singt, schreibt Songs und taucht 1993 in dem Trio Vertical Hold wieder auf. Vertical Hold stehen im Ruf, leider glücklos die ersten Schritte zu einer Soul-Rückbesinnung im modernen R&B unternommen zu haben, Angie Stones eigene Beschreibung: »ein wenig wie Loose Ends, kommerziell aber doch Soul-kompatibel« trifft die Sache deutlich besser. Eine gute schicke urbane Band. Nachdem sie, wie fast auch D'Angelo, einer Labelumstrukturierung zum Opfer fallen, verliert Angie die beiden anderen Mitstreiter und gewinnt einen neuen Freund. Bald wird sie zum zweiten Mal Mutter und veröffentlicht gut drei Jahre später mit »Black Diamond« ihr Solo-Debut, wieder steht sie an der Spitze einer deutlich auszumachenden Bewegung.


»Black Diamond« - eine CD, so elegant wie ihr Cover. Eine schillernde Retro-Soul-Platte, die nicht nur in höchsten Tönen vom Kiffen schwärmt, sondern die einem hilft, sowohl frisch verliebt als auch mit Herzweh den täglichen Abwasch zu meistern.Musik, die einen freundschaftlich begleitet. Sie haben eine spezielle Leichtigkeit, diese sehr bewusst auf die Präsenz von Angies Stimme hinproduzierten, langsamen bis midtempo Songs, Schmetterlinge, die sich schon Jahre bevor Angie Stone zum ersten mal HipHop hörte verpuppt haben müssen und nun endlich frei im Aufwind flattern. Absagen an jede Modernität? - Keinesfalls, aber ähnlich D'Angelos Musik, plädiert Mrs. Stone für den freien Zwischenraum, den Ort, der auf die nicht so einfach codierten Mitteilungen weist.


Wie fühlst Du Dich nach dem Erscheinen Deiner ersten Solo-LP?
ANGIE STONE: Extrem gesegnet und dankbar.
Auf dem Cover befinden sich viele Zitate aus dem Neuen Testament. Ist Religion ein zentraler Aspekt in deinem Leben?
ANGIE STONE: Oh, ja, das steht außer Frage.
Seit wann?
ANGIE STONE: Kindesalter. Ich war 12, 13 Jahre alt, als ich zum ersten Mal persönlich Gott spürte. Schon vorher war ich immer zur Kirche gegangen, aber dann hatte ich zum ersten Mal diese eins-zueins Erfahrung.
Welcher Gestalt?
ANGIE STONE: Berührt vom Heiligen Geist, Visionen, Träume - ich nehme dies alles sehr ernst.
Ist Musik für Dich ein Weg, sich Gott zu nähern?
ANGIE STONE: Klar! Auf der Hülle meiner CD kannst Du eine versteckte Inschrift finden...
»Psalm 100:1-2: Jauchzet dem Herrn, alle Welt! 2 - Dienet dem Herrn mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohloken«
...Gott will, dass Du singst.


Hallo Leser! Zuckst Du gerade zusammen, willst doch lieber zurück zu den Themen, über die sich hier im allgemeinen Musiker auslassen? Verständlich. Aber vielleicht hilft es, etwas jenseits unseres alltäglichen Umgangs mit Musik herauszufinden. Angie Stones Platte läuft bestimmt auch schon in deinem Szene-Café, gut möglich, dass sich der Mille Plateaux-Fan am Nebentisch gerade öffentlich zu Destiny's Child bekennt (oh, ja!). Es scheint, als würde der Glauben an eine lineare, rationale Moderne endlich Risse bekommen, nachdem er nun so lange die allgemeine Wahrnehmung popkultureller Codes inklusive der Bereitschaft zum schnellen Urteil über dies und das beherrschte. Aber was ¡st nun mit dem Erinnern? Ist es nur eine Retro-Strategie oder überhören wir die Echos und übersehen wir die Spuren nicht auch, weil es uns so schrecklich zäh scheint, immer wieder Fragen stellen zu müssen?


Was ist Freiheit für Dich?
ANGIE STONE: Nicht in einer emotionalen oder mentalen Falle zu stecken, denn das kann Dir die Menschlichkeit, deinen Geist, rauben. Frei davon, sich von Freunden, Familie oder selbst der Liebe täuschen zu lassen, denn diese Dinge sind nur eine große Täuschung, solange Du nicht Gott in den Vordergrund lässt.
Wie war die Zusammenarbeit mit D'Angelo auf Deiner und seiner Platte?
ANGIE STONE: Es waren zwei unterschiedliche Situationen. Ich habe absichtlich wenig mit ihm auf meiner Platte kollaboriert, weil es da draußen sicher eine ganze Menge Leute gab, die dachten, ich brauchte ihn, um selber eine Platte machen zu können. Mir ging es also auch darum, das Gegenteil zu beweisen.
Worum ging es Dir noch?
ANGIE STONE: Es ging um Realität. Ich denke, »Black Diamond« reaches and teaches.
Fehlen diese Dimensionen dem aktuellen R&B?
ANGIE STONE: Ja. Aber ich finde es an diesem Punkt wichtig, nicht die Stile zu verwechseln, denn die Leute bringen sie heutzutage gerne durcheinander. R&B, HipHop und Soul sind sehr verschieden. Soul ist sehr emotional, vom Geist und der Seele bestimmt. R&B ist hip, hat weniger Ursprüngliches und mehr kurzlebige Elemente. Und HipHop ¡st halt eine straighte Kids-Musik, aber sie schafft keine Standards. Standards schafft eine zeitlose Musik wie Soul. Dagegen ist HipHop nur schick und R&B belanglos. Ich selber bin ein Produkt all dieser Stile und ich versuche, in meiner Musik Brücken zu bauen, Verbindungen zu schaffen. Ich denke, meine Musik ist eine gute und spirituelle Musik und wird von der Kritik gewürdigt, weil sie alle Menschen erreicht: alt, jung, schwarz, weiß, schwul oder straight.
Gibt es eine Verbindung zur Vergangenheit in der Musik?
ANGIE STONE: Ja genau, sie trägt Dich zurück zu Gladys Knight, zu Marvin Gaye und Sam Cooke. Ich wollte etwas wiederbeleben und es gleichzeitig an heute anknüpfen.
Jemand wie Prince hat früher sein Publikum jedes Jahr mit einem neuen Sound überrascht.
ANGIE STONE: Prince hat aber so auch seine Karriere ruiniert. Er ist und bleibt für mich ein Genie, ganz egal was ich von seinen neuen Sachen halte und ich glaube als Fan, dass er immer wieder Musik machen kann, die mich völlig begeistert aber... weißt du, es ist das Selbe mit D'Angelo, er will so schnell wachsen, dass er sein Publikum verwirren könnte. Ich selber bin da etwas anders, ich möchte so konsistent arbeiten wie Anita Baker oder Sade. Ich möchte mein Publikum nicht enttäuschen. Mary [J. Blige] kann sich das nach vier Top-Alben leisten, ich nicht, ich habe nur Platten gemacht mit Bands, an die sich niemand mehr erinnert.
Was ist die Seele in der Musik?
ANGIE STONE: Es hat für mich mit Einflüssen und Emotionen zu tun. Gospel-Wurzeln, Spiritual-Wurzeln, es bedeutet, mit dir selber eins zu werden. Soul zu kennen heißt, die Seele in dir selber zu kennen. Für mich hat das auch viel mit der Kirche zu tun, mit der Leidenschaft, Gott zu dienen. Ich glaube, dass alle großen Soul-Künstler sehr religiös sind. Ich denke da an Lauryn Hill, Erykah Badu, an Aretha Franklin, Maxwell, D'Angelo, all die Leute.
Kannst du eine ähnliche Spiritualität im Country finden?
ANGIE STONE: Absolut! Ich liebe Country Musik, gerade heute noch habe ich mir eine Patsy Cline-Platte gekauft. Mein Traum ist, eines Tages mit irgendeinem Country Sänger ein Duett zu singen, ich möchte da gerne die Leute schockieren.


Aber was ist nun mit der Seele? Ist sie etwas altes, vertrautes, zu dem man immer zurückkehren kann? Oder ist sie immer anders, wie durch andere geheim in uns verortet? D'Angelos und Angie Stones Soulverständnis kann beides nahelegen. Oder besser: es entwirft in seinen so interessanten Widersprüchen und Wechselspielen zwischen bewusster Konstruktion und betonter Authentizität etwas schillerndes vielseitiges, das gleichsam neu und zig mal gehört klingt. Ein Geheimnis? Wird man mir es nachsehen, wenn ich nun auch noch den ganzen Text mit einem Fragezeichen beende?

Oliver Tepel